Mehr oder weniger alltägliche Geschichten,
von Gregor Schürer
Ich bringe meine Tochter zum Zug. Sie hat uns besucht, muss nun zurück nach Bremen. Und hat es gern, wenn Papa sie bis zum Bahnsteig bringt.
Ihr Regionalexpress fährt am Gleis 2. Wir betreten das Bahnhofsgebäude, von wo die Treppe zur Unterführung hinab führt.
Aus den Augenwinkeln – wir haben es eilig – sehe ich, dass in der Nische an der Treppe etwas Rotes steht. Ich kann nicht auf Anhieb erkennen, was es ist.
Wir unterqueren die Gleise, steigen die Treppe hoch und laufen den Bahnsteig bis ganz nach vorne. Das tun wir deshalb, weil der Zug meist so weit vorfährt, als wolle der Lokführer im nächsten Bahnhof zum Stehen kommen.
Wir haben noch drei Minuten, wenn die Bahn pünktlich kommt.
Ich schaue hinüber zu Gleis 1, da fällt mir ein, was früher in der Nische stand, an der wir gerade vorbeigekommen sind. Es war der Fahrkartenautomat der Deutschen Bahn! Der stand da auch prima, weil man dort im Trockenen seine Fahrkarte ziehen konnte. Und nicht Gefahr lief, vom Fahrtwind eines mit Tempo 150 oder mehr durchbrausenden Intercity ins Gleisbett gerissen zu werden.
Jetzt steht er draußen, man darf ihn also im Freien, wahlweise bei sengender Hitze oder Eiseskälte, bei Regen, Hagelschauer oder Schneefall bedienen. Dafür hat man mehr Auswahl, gleich daneben steht der gelbe Automat der Konkurrenz.
Bevor ich überlegen kann, was denn jetzt auf seinem früheren Platz stehen mag, fährt der Zug meiner Tochter ein, pünktlich auf die Minute!
Während man früher darüber schrieb, wenn ein Zug Verspätung hatte, schreibt man heute davon, dass er zur angegebenen Zeit kommt. Verkehrte Welt, aber lassen wir das.
Ich verabschiede die Tochter standesgemäß mit Umarmung und Kuss und winke ihr und der ausfahrenden Bahn hinterher.
Als ich die Treppe der Unterführung auf der anderen Seite hochsteige, fällt mein Blick auf die bewusste Nische – und ich traue meinen Augen nicht. Dort steht, ich schwöre es beim Leben meines gerade abgereisten Kindes, ein Boxautomat.
Also so eine Maschine, wie man sie von der Kirmes kennt. Man wirft eine Münze hinein, dann löst sich von oben ein rot-schwarz karierter Punchingball und man drischt so feste darauf, wie man kann. Ich wusste gar nicht, dass es solche Apparate heute noch gibt!
Bevor mein Verstand fragen kann: „Wofür?“ fällt mir schon die Antwort ein. Es muss sich um einen geradezu unglaublichen Geniestreich der Bahn handeln. Alle Reisenden, die sich mal wieder aufregen, haben hier, an Ort und Stelle, sofort Gelegenheit, ihre Wut loszuwerden:
Zug verspätet? Wirf einen Euro ein und hau den Bahnchef Lutz auf die Mütze.
Zug fällt aus? Wirf zwei Euro ein und hau dem GdL-Vorsitzenden Weselsky drei Mal auf die Zwölf.
Bei nächster Gelegenheit werde ich die neue Anti-Aggressionstherapie der Deutschen Bahn ausprobieren, versprochen!
– Blick Aktuell 21.03.24