Mehr oder weniger alltägliche Geschichten,
von Gregor Schürer
Ich sitze in der Philharmonie und warte, dass es los geht. Auf dem Programm steht die konzertante Aufführung einer Oper, eher selten hier zu hören und zu sehen, ich bin gespannt. Als langjähriger Abonnent hat man schon so manches erlebt im Konzertsaal: Die umherirrenden Sitzplatzsucher, die stets im falschen Block unterwegs sind und nie die freundlichen Platzanweiser fragen. Die zu spät kommenden Besucher, die natürlich immer die Sitze in der Mitte haben, sodass alle in der Reihe aufstehen müssen. Die Huster und Hüstler mit raschelndem Bonbonpapier. Die selig Einschlafenden, gelegentlich in der Schnarchversion. Selbst ein Notfall mit Herzdruckmassage und anschließender Unterbrechung und Saalräumung war schon dabei, der Gottseidank gut ausging.
Links neben mir eine freundliche Dame, auch sie freut sich auf „Carmen“ von Georges Bizet. Rechts von mir ein Mann mit kahlrasiertem Schädel, groß, muskulös, Typ Dwayne Johnson. Sein beigefarbener Anzug platzt fast an den Oberarmen, ich gebe zu, ich bin etwas neidisch. Seine blonde Begleiterin trägt ein weißes Kostüm mit kurzem Rock, ich schätze beide auf Mitte bis Ende vierzig.
Der Saal wird dunkel, Orchester, Solisten und Dirigent betreten die Bühne, der Begrüßungsapplaus brandet auf. Dann wird es still und die Musik setzt ein. Nach etwa zehn Minuten greift mein Nebensitzer in die Innentasche seines Jacketts und holt ein Handy heraus.
Er entsperrt den Bildschirm, öffnet mehrere Programme und schaut sich diverses an. Dann legt er das Smartphone mit hörbarem Klacken auf die Balustrade vor uns. Ich konzentriere mich wieder auf die wunderbare Musik, als er nach etwa fünf Minuten erneut zum Telefon greift und die Prozedur wiederholt. Die Dame links neben mir hat es ebenfalls bemerkt, wir tauschen stirnrunzelnd Blicke. Einige Minuten später passiert es wieder, ich überlege, was ich machen soll und atme tief und hörbar ein. Mein Schnaufen nützt nichts, er greift weiterhin regelmäßig alle paar Minuten zum Handy. Ich beuge mich vor um nachzusehen, wie seine Begleiterin darauf reagiert und stelle fest: Auch sie schaut gerade auf ihr Smartphone.
Nach dem ersten Akt, es gibt keine Pause für das Publikum, die Orchestermusiker nutzen die kurze Unterbrechung lediglich zum Nachstimmen ihrer Instrumente, steht er auf und geht mit dem Handy in der Hand nach draußen. Eine viertel Stunde später, das Konzert hat längst wieder angefangen, kommt er zurück. Ich seufze innerlich und denke: Nun hat er sein Telefonat geführt und es kehrt Ruhe endlich ein. Falsch gedacht, es geht weiter im bekannten Rhythmus: Handy checken, Handy weglegen.
Nach der Pause warte ich, bis fast alle Besucher ihre Plätze eingenommen haben. Zum einen will ich sehen, ob das Pärchen wirklich wiederkommt. Es kommt. Ich suche mir daraufhin einen freien Sitz einige Reihen höher. Ich bin nicht der einzige, beide Plätze links von Dwayne bleiben unbesetzt.
Die Carmen war übrigens großartig.
– Blick Aktuell 16.04.24